6./2. April 2010
Friedrich von Bodelschwingh (1831 - 1910) (rot) Leiter Bethels, der Stadt der Barmherzigkeit
Weil wir dieses Amt haben nach der Barmherzigkeit, die uns widerfahren ist, werden wir nicht müde. 2. Kor 4,1
Vorspiel
Eröffnung (Hinführung)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. R. Amen.
Wir gedenken in der Gemeinschaft des Glaubens während dieser Tage des evangelischen Theologen Friedrich von Bodelschwingh, der vor 100 Jahren, am 2. April 1910 verstarb. „Sein Name steht für diakonisches Engagement und höchst effizientes Unternehmertum im Dienst für Arme, Kranke und Schwache. "Neue große Nöte bedürfen neuer, mutiger Gedanken", war sein Lebensmotto. Unter seiner Leitung wuchsen die nach ihm benannten v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld zu einem der größten diakonischen Unternehmen Europas. Der Verfechter der sozialen Fürsorge und tief fromme Christ erreichte ein Alter von 79 Jahren. Bodelschwinghs Lebensleistung findet bis heute höchste Anerkennung. (Als der WDR vor wenigen Wochen die Zuschauer aufrief, die 20 Besten Nordrhein-Westfalens zu küren, wählten ihn die Zuschauer in eine illustre Runde mit Rennfahrer Michael Schumacher, dem früheren Bundespräsidenten Johannes Rau (SPD) und der Fernsehmagazin-Figur "Die Maus".) - Der 1831 im westfälischen Tecklenburg geborene Theologe sei ein Wegbereiter einer "Moderne mit menschlichem Antlitz" gewesen, schreibt der Historiker und Bodelschwingh-Experte Hans-Walter Schmuhl in seiner Bodelschwingh-Biografie. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss bezeichnete Bodelschwingh wegen seines geschickten "Fundraisings" anerkennend als "den genialsten Bettler", den Deutschland je gesehen habe. (a)
* Ingressus: Herr bleibe bei uns (EG 785.1)
* Luzernar: Von einer hereingetragenen Kerze aus werden alle Lichter in der Kirche entzündet.
Lied (zum Einzug des Lichtes): O dass doch bald dein Feuer brennte (EG 255,1.5-8)
* Dank über dem Licht (Benediktion)
L: Der Herr sei mit euch.
G: Und mit deinem Geiste.
L: Lasst uns danksagen und Gott preisen
G: Das ist würdig und recht.
Gepriesen seist du, Gott, ewige Güte, /
Grund allen Lebens, König der Welt, /
+ Du suchst und du findest uns.
Am Anfang hat du das Licht aus der Finsternis gerufen; /
In der Fülle der Zeit bist du erschienen in Christus, dem Licht der Welt /
und vom Feuer des Geistes entzündet, hast du die Apostel berufen, /
+ dich zu bezeugen bis an die Enden der Erde.
Du hast zu allen Zeiten und an vielen Orten /
deiner Kirche Männer und Frauen geschenkt,
+ in deren Leben das Licht deiner Liebe uns leuchtet;
wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren ist /
+ und ihnen durch den Glauben geholfen ward.
Das Beispiel ihres Wirkens weist auch uns den Weg. /
So erleuchte uns Augen und Herz, /
+ dass wir erkennen, wozu wir berufen sind.
Über allem aber lass uns schauen unsere Hoffnung in Christus Jesus,
deinem Sohn, dem Abglanz deiner Herrlichkeit, /
+ der mit dir im Heiligen Geist lebt und wirkt in Ewigkeit. (b)
Psalm (gesungen)
Leitvers: Der Engel des Herrn behütet alle, die ihn fürchten.
Psalm 34: Ich will den Herrn loben allezeit (EG 781.2)
oder
Psalm (gesprochen)
Votum: Den Herrn, der uns gemacht hat: Kommt lasst uns anbeten. Kommt herzu, lasst uns dem Herrn frohlocken und jauchzen dem Hort unsres Heils. Lasst uns mit Danken vor sein Angesicht kommen und mit Psalmen ihm jauchzen.(Ps 95,1.2) (c)
Psalm 126: Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird (EG 713)
* Tagesgebet
Beten wir still zu Gott, unserm Vater im Himmel:
Allmächtiger Gott, wir danken dir für das Zeugnis und den Dienst Friedrich von Bodelschwinghs durch sein Wirken in Bethel und bitten dich: Stärke in uns die Erkenntnis deiner Barmherzigkeit, die du uns in deinem Sohn erwiesen hast, auf dass wir in all unserem Planen, unseren Worten und Werken dich rühmen und uns dir dankbar erweisen. Durch unsern Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir und dem Heiligen Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. (d)
Epistel: Römer 12, 7-16 - Übt jemand Barmherzigkeit, so tue ers gerne
* Responsorium: Weise mir, Herr, deinen Weg (EG Wü 779.3)
Evangelium: Lukas 9,37-43 - Jesu Heilung eines epileptischen Knaben
* Responsorium: Herr, dein Wort, ist meines Fußes Leuchte (EG Wü 781.3)
Betrachtung (Auslegung oder Vita (e) oder Würdigung (f))
Hymnus: Ich habe nun den Grund gefunden (EG 354,1-3.6.7)
* Canticum
Leitvers: Christus, unsern Heiland, ewigen Gott, Marien Sohn...
Magnificat: Meine Seele erhebt den Herren (EG 785.6)
Fürbitten
Du, ewiger Gott und Vater, hast Christus zum Herrn und Haupt deiner Gemeinde gemacht und lässt auch die diakonischen Dienstgemeinschaften aus Gnade ein Glied sein an seinem Leib. Erhalte alle, die dir dienen im heilsamen Wort und heiligen Leben. Gib ihnen ungetrübte Seelen, geistliche Armut, lebendigen Glauben und brennende Liebe. Lege ihnen deine Barmherzigkeit ins Herz. (Wir rufen:)
R: Erhör uns lieber Herr und Gott.
Lass sie die Kranken pflegen mit deiner Liebe und Weisheit, dass auch deren Seelen genesen. Lass sie Schwestern und Brüder, Mütter und Väter sein für Arme und Verlassene, Witwen und Waisen. Mache sie zu Tröstenden für Irre und Schwermütige, für Gefangene und Heimatlose, dass sie den Blinden Augen und den Lahmen Füße sein können und so den Dienst tun in deiner Gegenwart. (Wir rufen:)
R: Erhör uns lieber Herr und Gott.
Gib, dass sie die Kinder aufnehmen und unterweisen in deinem Namen, damit du sie segnest. Lass sie nicht müde werden, den Gefährdeten und Verirrten nachzugehen in deiner Liebe und Weisheit, Langmut und Geduld. Lass sie die Sterbenden mit kräftigem Trost erquicken und stehen du selbst ihnen an den Sterbebetten gnädig bei. Lass in jeder Not und Anfechtung die Freude an dir ihre Stärke sein und deine Kraft in ihrer Schwachheit mächtig werden. (Wir rufen:)
R: Erhör uns lieber Herr und Gott.
Hilf, dass alle, die dir so an den verschiedenen Orten dienen, ein Segen werden für das ganze Haus deiner Kirche. Lass durch ihren Wandel - ohne Wort - gläubig werden, die nicht glauben an das Wort. Lass Tag und Nacht deine Augen offenstehen über den Einrichtungen und Häusern, in denen ausgebildet wird. Lass deinen Frieden unter denen regieren, die zusammen leben. Verleihe allen, die zur Leitung berufen sind, Weisheit und Sanftmut, dass sie um deinetwillen mit Ernst und Güte tätig werden.(Wir rufen:)
R: Erhör uns lieber Herr und Gott.
Gedenke aller, die als Mitarbeitende tätig sind. Gib uns und allen Menschen unser tägliches Brot. Hilf uns, dass wir die uns anvertrauten Güter treu verwalten, lass uns sammeln und halten, was übrig ist, damit nichts umkomme von deinen Gaben. Wehre allem Neid und Geiz, lass uns nicht reich werden wollen, sondern uns genügen an Nahrung und Kleidung. Segne uns mit Fleiß und Treue in unserem Tagewerk. Verleihe uns dazu täglich Kraft des Leibes und der Seele. (Wir rufen:)
R: Erhör uns lieber Herr und Gott.
Lass uns stets daran denken, dass diese Welt vergeht und das Ende der Zeiten naht. Wenn aber das über die Deinen kommt, was du in deinem Wort vorhergesagt hast, wenn zu leiden ist Trübsal, Verfolgung, Angst und Schrecken und du dem Tod reiche Erntegeben wirst, dann schenke Geduld und Kraft, fröhlich die Häupter zu erheben, weil sich unsere Erlösung naht. Tage uns selbst durch alle Anfechtungen in der lebendigen Hoffnung der Auferstehung von den Toten. So gib, dass wir uns sehnen nach deinem himmlischen Reich und uns deinem Tag entgegenfreuen, da du allem Leid und Geschrei, allen Schmerzen und dem Tode ein Ende bereiten wirst durch Jesus Christus, unsern Herrn. (Wir rufen:)
R: Erhör uns lieber Herr und Gott. (g)
oder
Wechselbitten (Preces)
Erbarme dich, Gott, deiner Menschen und all ihrer Not:
R: Schenke Geist und Leben und gib deinem Wort offene Türen.
Segne die Verkündigung der frohen Botschaft in aller Welt:
R: Erwecke die Gemeinden zum Glauben, zum Gebet, zur helfenden Tat.
Sieh an die Not derer, die der Hilfe bedürfen.
R: Rufe Menschen in deine Arbeit und mache Herzen zum Dienst bereit.
Segne unser Volk und Land mit allen, die hier leben:
R: Steh uns in unseren Nöten gnädig bei.
Gib allen, die regieren sollen, Weisheit und Kraft.
R: Lass sie ihr Amt zum Wohl der Menschen führen.
Schenke Frieden auf Erden, erhalte ihn allen Völkern:
R: Wehre dem Geist des Hasses und der Vergeltung.
Wir bitten dich für alle, die uns anvertraut sind.
R: Der Kranken und Elenden erbarme dich.
Große und Kleine lass dir befohlen sein.
R: Tröste die Traurigen, hilf den Verirrten.
Der Not der ganzen Welt nimm dich gnädig an.
R: Deine Barmherzigkeit überwinde den Abgrund unsres Elends.
Wir hoffen auf dich, dass du so gnädig bist.
R: Unser Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. (h)
Vaterunser
(Gebetsstille) - Kollekte:
Wir sind dein, o Jesu. Deshalb darfst du uns allen dies große Ding schenken, dass wir untereinander eins seien, wie du mit deinem lieben Vater. Auch wir sollen zeugen von dem, was du bist und getan hast auf Erden, dadurch, dass wir untereinander eins sind, und dass die Liebe deines Vaters auch in unsern armen Herzen wohnt. Um dieses deines Namens willen schenke uns, dem armen Häuflein deiner Kinder, solche Gnade, die Einigkeit, die treue Liebe im Geist, die du uns erworben und erbeten hast. (Dir sei Ehre in Ewigkeit.) (i)
Ausgang (Lobpreis und Segen ) (EG 785.11)
(Nachspiel)
*
Vita
Friedrich von Bodelschwingh, Sohn eines hohen preußischen Beamten und späteren Ministers, wuchs im gutbürgerlichen, entschieden christlichen Elternhaus auf, als Kind in Koblenz, ab 1842 in Berlin, wo der Kronprinz und spätere Kaiser Friedrich Wilhelm III. zu seinen Spielkameraden gehörte. Sein Hauslehrer eröffnete ihm auch Einblicke in das Leben der Armen; Bodelschwingh bekam Eindrücke vom Leben, "von Hunger, Böße und Elend der Armen, ganz besonders aber auch von dem unbillig großen Abstand zwischen arm und reich", wie er damals notierte. Als 1848 Aufstände in Berlin gewaltsam niedergeschlagen wurden, verlor sein Vater das Amt des Innenministers, die Familie kehrte nach Westfalen zurück. Bodelschwingh verabscheute trotz seiner sozialen Einsichten den Zorn des "Pöbels" - zeitlebens vertrat er die Auffassung, die Monarchie sei gottgegebene Ordnung, und er blieb dem Herrscherhaus der Hohenzollern verbunden.
Nach dem Abitur in Dortmund verbrachte von Bodelschwingh Lehrjahre als Landwirt auf Gut Gramenz in Pommern; hier sah er das Elend der Landarbeiter, versuchte gegen ihren Alkoholismus anzugehen und sie mit Hilfe von christlichen Traktaten zu missionieren. Im Alter von 24 Jahren beeindruckte ihn ein Büchlein über die Arbeit der "Basler Mission" in China; er wollte Missionar werden und entschloss sich zum Theologiestudium. Seine angeschlagene Gesundheit verhinderte einen Einsatz in der Mission. Von 1858 bis 1864 wirkte er deshalb als Pfarrer in einer Gemeinde der armen deutschen Fremdarbeiter in Paris und kümmerte sich um deren Not; auch er selbst wohnte in einer einfachen Holzhütte. In jener Zeit heiratete er seine Cousine Ida. 1864 wurde er Pfarrer in Dellwig im Ruhrgebiet; auch hier kam ihm die soziale Not ganz nahe. Er machte die "Gottvergessenheit" der Gesellschaft verantwortlich für die "soziale Frage" und setzte sich mit seiner von der Erweckungsbewegung geprägten Frömmigkeit ein gegen ein "sattes Christentum" und die damals vorherrschende "liberale Theologie". 1869 starben der Familie innerhalb von nur zwei Wochen alle vier Kinder an Diphterie.
1872 übernahm von Bodelschwingh die Leitung der 1867 gegründeten Anstalten für Epilepsiekranke in Bethel - hebräisch: "Haus Gottes" - bei Bielefeld, die später nach ihm benannt wurden. Er sorgte für ein rasches Wachstum der Einrichtung - jedes Jahr konnte ein neues Haus gebaut werden. Die finanziellen Mittel erhielt er einerseits über seine Beziehungen in höchste Kreise, andererseits durch gezielten Aufbau der "Pfennigvereine" zum Spendensammeln in ganz Deutschland.
Von Bodelschwingh setzte sich für Arbeitslose und für Obdachlose ein, die er "die Brüder von der Landstraße" nannte. Unter seiner Führung wurden die Anstalten erheblich erweitert, sie nahmen neben den kranken Epileptikern nun auch Obdachlose und zahlreiche andere sozial benachteiligte Personen auf und wurden zum größten Hilfswerk der "Inneren Mission", der diakonischen Einrichtungen der evangelischen Kirche in Deutschland. Als Außenstellen wurden die Häuser Wilhelmsdorf bei Bielefeld, Freistatt bei Diepholz und Lobetal in Berlin gegründet. Als Mitglied im Preußischen Landtag ab 1903 setzte er ein Wanderarbeitsstätten-Gesetz durch.
Die letzten zehn Lebensjahre von Bodelschwinghs waren von Krankheiten geprägt; nach einem Schlaganfall war er im letzten Jahr vor seinem Tod an den Rollstuhl gefesselt und übertrug die Leitung der Anstalten seinem gleichnamigen Sohn Fritz von Bodelschwingh.
Schon zu Lebeiten war von Bodelschwingh zur Legende geworden, nach seinem Tod zur "Heiligengestalt von unerschüttlicher Glaubenskraft, überquellender Liebe und nie versiegender Barmherzigkeit, gütig und milde, von heitere Gelassenheit, freundlich, humorvoll, verständnisvoll und nachsichtig" - so sein Biograf Hans Walter Schmuhl.“ (k) „In Bethel wirbt man heute... auch für eine differenzierte Betrachtung des Namensgebers. Bereits zu Lebzeiten sei Bodelschwingh ...verklärt worden... Zu den Ecken und Kanten seines Charakters gehörten auch "die geistige Enge seines Glaubens, ein Sendungsbewusstsein, das es ihm schwermachte, andere Meinungen gelten zu lassen" sowie "sein mild patriarchalischer, dennoch autoritärer Führungsstil". Heute werde Bethel wesentlich demokratischer geleitet, versichert Bethel-Chef Pohl. Viele soziale Initiativen des alten Bodel- schwinghs seien jedoch aktueller denn je. Zum Beispiel seine Praxis des "Förderns und Forderns". Bei Bodelschwingh hieß das lediglich anders: "Arbeit statt Almosen". (l) Auf seinem Grabstein ist zitiert, was Grundlage des Wirkens von Bodelschwinghs war: "Weil uns Barmherzigkeit widerfahren ist, darum werden wir nicht müde" (2. Korintherbrief 4, 2). (k)
Aus "Bodelschwingh und die Mission" - Festvortrag zum 175. Geburtstag Friedrich von Bodelschwinghs beim Symposium „100 Jahre Mission in Bethel“
Bischof Wolfgang Huber (Berlin) am 27. Oktober 2006
...V. Friedrich von Bodelschwingh war nicht nur ein genialer Bettler, sondern auch ein begnadeter Visionär. Seine Impulse veränderten nicht nur die evangelische Kirche und ihre Diakonie; sie wirkten sich auch auf die Entwicklung des Sozialstaats aus. Das persönliche Schlüsselerlebnis hat viele angerührt und auch mich rührt es immer wieder an: Bodelschwingh verlor im Jahr 1869 innerhalb weniger Tage vier Kinder an einer Keuchhusten-Epidemie; dazu sagte er im Rückblick: Damals merkte ich, wie hart Gott gegen Menschen sein kann, und darüber bin ich barmherzig geworden gegen andere. Arbeits- und Obdachlose, Wanderarbeiter und andere umher ziehende Gesellen, psychisch Kranke und Körperbehinderte, Ausgestoßene und Verlassene waren seine Gemeinde, bald auch seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Denn Bodelschwingh gab jedem, der bei ihm Hilfe suchte, über kurz oder lang eine Aufgabe, die seinen Fähigkeiten entsprach und seine Kompetenzen stärkte. So baute er die damalige Epileptiker-Einrichtung und die Diakonissenanstalt in Bethel bei Bielefeld in kurzer Zeit zu einer Stadt der Barmherzigkeit aus – mit eigenen Betrieben und Kliniken, Schulen und Ausbildungsstätten, alternativen Arbeitsprojekten und Secondhand-Läden, großen Fundraising-Projekten und nicht zuletzt: einer eigenen Kirche. Die Betheler Diakonie wurde zum Urbild eines diakonischen Gemeinwesens. Dieser Typus der Diakonie verbindet sich bis heute mit Bodelschwinghs Namen. Solche Diakonie ist ein Orientierungspunkt für Menschlichkeit und Würde. Und ein Leuchtfeuer für eine Kirche der Freiheit, die sich als diakonische Kirche versteht.
Die erste Frage soll nicht sein: Was kann ich von meinem Nächsten erwarten, sondern; Was kann der Nächste von mir erwarten, wird Bodelschwingh zitiert. Diese Frage aus der Umbruchszeit des späten 19. Jahrhunderts wirft ein ungewohntes Licht auf unsere heutige Situation. Weder was ich vom Nächsten noch was er von mir erwartet, scheint heute die erste Frage zu sein. Eigenverantwortung wird groß geschrieben; jeder soll sich selbst der Nächste sein. Doch Eigenverantwortung macht Nächstenliebe keineswegs überflüssig. Wir bleiben vielmehr auf sie angewiesen. Mehr noch: Sie bleibt ein unentbehrliches Lebenselement einer menschlichen Gesellschaft. Und sie bleibt der wichtigste Beitrag des christlichen Glaubens zur Kultur des Zusammenlebens.
Damals ergab sich aus der Industrialisierung die Notwendigkeit, der Nächstenliebe eine neue Gestalt zu geben. Heute stürzen der demographische Wandel und die Zwänge einer globalisierten Welt das Gefüge der Gesellschaft um. Arbeitslosigkeit und Armut, die Überalterung, die man besser eine Unterjüngung nennen sollte, das starke Bildungsgefälle und die wachsenden Erziehungsdefizite, die Marginalisierung von Behinderten und die Isolierung von Alten: das sind alles Phänomene, die sich nicht einfach auf das Versagen der Einzelnen zurückführen lassen. Trotzdem müssen die Einzelnen in dem Maß für sich selbst sorgen, in dem ihnen das möglich ist. Denn nur dann lassen sich Spielräume für gesellschaftliche Solidarität gewinnen, die wir so dringend brauchen. Doch genauso gilt: Nur wenn es auch heute und morgen Menschen gibt, die ihr Handeln an dem ausrichten, was ihre Nächsten von ihnen erwarten, werden wir eine menschliche Gesellschaft behalten. Menschen zum Helfen zu ermutigen, bleibt eine dringliche Aufgabe.
Die Faktoren, die Menschen vom Helfen abhalten, sind vielfältig. Die Auffassung, das Elend des anderen sei selbstverschuldet, trägt dazu ebenso bei wie das Gefühl, selbst ohnehin nichts ändern zu können. Die Institutionalisierung der Nächstenliebe, für die Bodelschwingh ein großartiges Beispiel gegeben hat, führt darüber hinaus bei manchen zu einem folgenschweren Missverständnis. Sie denken, für das Helfen seien ohnehin andere zuständig. Ohne Zweifel hat die beispiellose sozialstaatliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte auch dazu beigetragen, dass Menschen, die tun könnten, was ihr Nächster von ihnen erwartet, die Hände in den Schoß legen. Aber sie werden gebraucht. Denn heute verschieben sich die Gewichte. Die institutionalisierte Hilfe wird knapper. Menschliche Zuwendung in der Pflege beispielsweise hat kaum noch Raum in den vorgegebenen Zeittakten; professionelle Hilfe für gefährdete Jugendliche wird oft zu spät oder auch gar nicht gewährt. Auch in unseren hoch entwickelten Sozialsystemen wird die Luft für die Nächstenliebe dünner. Deshalb wird auf beides zu achten sein: Professionelle Hilfe muss im nötigen Umfang gewährleistet werden; in ihr muss auch für menschliche Zuwendung Raum sein. Und ehrenamtliches Engagement, gelebte Nächstenliebe über den eigenen Beruf hinaus, wird zugleich an Bedeutung gewinnen. Wir sind darauf angewiesen, dass mehr Menschen fragen, was ihr Nächster braucht.
Das Wort „unheilbar“ steht im Wörterbuch eines Christen nicht mehr, heißt es bei Bodelschwingh, dem kühnen Visionär. Weiter liest man bei ihm: Wer danken gelernt hat, ist gesund geworden, auch wenn er sein ganzes Leben in einer Zelle zubringen muss. Und an anderer Stelle: Der gesunde Mensch ist krank, wenn sein Blick haften bleibt an den armen, vergänglichen Dingen dieser Erde. Der kranke Mensch ist gesund, sobald er durch den Glauben Zugang gefunden hat zur ewigen Hoffnung. Bodelschwingh war kein Sozialtechniker der Nächstenliebe. Er lebte und handelte aus dem Dreiklang von Glauben, Liebe und Hoffnung. Diesen Dreiklang wieder zu gewinnen, ist ebenso wichtig, wie zum Helfen zu ermutigen. Die Not unserer Zeit besteht nicht in der politischen Ratlosigkeit über die Finanzierung des Gesundheitssystems – obwohl man wünschen möchte, dass der Wille zur relativ besten Lösung sich möglichst bald durchsetzt. Die Not unserer Zeit besteht auch nicht darin, dass nicht noch schneller Techniken entwickelt werden, um Krankheiten schon im Genom heilen zu können – so beeindruckend viele Fortschritte der Medizin auch sind. Die Not unserer Zeit ist ein Mangel an Glauben und Hoffnung. Wir brauchen eine stärkere Gewissheit, die über den Tag hinaus blickt. Wir brauchen eine Hoffnung, die über unser endliches Leben hinausreicht, um die Endlichkeit dieses Lebens zu akzeptieren. Krankhaftes Vergleichen, uneingestandene Verlustängste und fiebrige Aufholjagden hindern an einer gelassenen Dankbarkeit, die anerkennt, dass sich das Gelingen des eigenen Lebens nicht nur der eigenen Leistung verdankt. Dafür, dass eine solche Haltung nicht nur das Helfen, sondern auch das Leben bestimmt, kann die Diakonie ein Beispiel setzen. Denn jedes diakonische Bemühen zielt auf Gemeinschaft in Gottes Namen. Jede diakonische Tat erinnert an das helfende Handeln Jesu, der seine Hand Menschen entgegenstreckte, damit sie Vertrauen fassen konnten.
Daran zu erinnern ist heute wieder nötig. Immer wieder muss die Diakonie sich ihrer Glaubenswurzeln erinnern. Denn Diakonie ohne Spiritualität wäre nicht genug; sie wäre nichts als Sozialtechnik. Ohne seelsorgliche und geistliche Angebote, ohne ethische Orientierung für Kranke und Gesunde, für Patienten und Mitarbeitende fehlte der Diakonie die innere Achse, die Freiheit und die Hoffnung, aus der ein Handeln für den Nächsten erwächst. Die Organisationsformen der Diakonie mögen vielfältig sein. Entscheidend ist, in welchem Geist Menschen miteinander arbeiten und worauf ihre Anstrengungen gerichtet sind. Evangelische Diakonie orientiert sich am Geist Jesu, der von Angst befreit, zu einem offenen Miteinander befähigt und vor dem Tod nicht kapituliert. Wo Diakonie in diesem Geist gestaltet wird, bilden sich oft christliche Gemeinden in neuer Form. Zu wünschen ist freilich, dass sich auch die christlichen Gemeinden in ihrer vertrauten Form von diesem Geist inspirieren lassen und aus den Erfahrungen der Diakonie lernen. Denn dass es große diakonische Einrichtungen, ja ganze diakonische Gemeinwesen gibt, entbindet niemanden von der Hilfe zum Nächsten, auch nicht die Ortsgemeinden in Stadt und Land. Heute bieten eine wohnortnahe Diakonie und eine stadtteilorientierte Sozialplanung handfeste Anknüpfungspunkte für eine neue Verbindung von Diakonie und Ortsgemeinde. Bodelschwinghs Idee einer Stadt der Barmherzigkeit kann auf neue Weise zum Leuchten kommen.
Die Aufgaben der Sterbebegleitung können als Beispiel dienen. Sie wissen hier in Bethel nur zu gut, wie sehr die Sterbegleitung ein enges Zusammenwirken der Institutionen und Dienste wie Krankenhaus, Hospiz, Altenzentrum, Arztpraxen und Pflegedienste erfordert, aber auch eine neue Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen. Nicht nur Sterbende, sondern auch ihre Helfer brauchen seelsorgerlichen Beistand, um sich auf ihre Aufgabe vorzubereiten und um sie durchzustehen. Ärzte, Pflegende, Therapeuten und Seelsorger stehen heute vor großen sozialen, ethischen und geistlichen Herausforderungen. Sie ringen um Menschlichkeit angesichts überwältigender technischer Möglichkeiten. Sie kämpfen um Kosten und Pflegesätze und erleben zugleich, wie sich religiöse und kulturelle Voraussetzungen für den Umgang mit Sterben und Tod verändern. Oft stehen sie in einer inneren Spannung zwischen der Zuständigkeit von Vorgesetzten und der eigenen Gewissensentscheidung, zwischen institutioneller und persönlicher Ethik. Unter den neuen Bedingungen ist der weite Geist von Nöten, für den der Name Bodelschwinghs steht. Auch heute halten sich Menschen an Glauben, Liebe und Hoffnung, wenn es um die Sehnsucht nach Heilung und die Trauer über den Tod, um den Ruf des eigenen Gewissens und die Würde des anderen Menschen geht.
VI. Zuversicht aus Glauben und Handeln aus Glauben – Mission braucht beide Elemente. Sie etwa nur in der Aufteilung von kirchlich-institutioneller oder diakonisch-institutioneller Arbeit finden zu meinen, würde der Arbeit der ganzen evangelischen Kirche schaden. Wenn Kirche und Diakonie aber „tandem“ – endlich! – der inneren Zusammengehörigkeit stärker Ausdruck verleihen und für unsere Mitmenschen als Tandem erkennbar sind, dann nehmen sie nicht nur ein Anliegen Friedrich von Bodelschwinghs auf, sondern Gott selbst wird für sie ein Leuchtfeuer entzünden und ihres Fußes Leuchte sein. (m)
Quellen - Erläuterungen
Soweit nicht anders angegeben sind Bibelverse wörtlich zitiert aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
a vgl. www.ekd.de Meldung "Große Nöte bedürfen neuer, mutiger Gedanken" 22. März 2010
b vgl. Evangelisches Tagzeitenbuch, 5. Aufl., Göttingen 2003, S.
c Aufruf im Abendgottesdienst nach dem sog. Bethel-Gesangbuch, 1914, S. 619
d vgl. Kollektengebet für Danktage in: Chorgebete II für Sarepta, 1964, S. 209
e vgl. im Anhang nach www.heiligenlexikon.de : von Bodelschwingh, Friedrich
oder www.elk-wü.de - Gedenktage 2010
J.Erb, Die Wolke der Zeugen, Bd. 3, Kassel 1958, S. 460 - 468 ;
A. Ringwald, Menschen vor Gott, Bd. III, Stuttgart 1963, S.196 f. ;
H. Achterberg, Zeugen des Evangeliums, Moers 1987, S. 342
f vgl. im Anhang nach www.ekd.de W. Huber, "Bodelschwingh und die Mission" - Festvortrag
27. Oktober 2006
g vgl. Anderes Fürbittengebet der Schwesternschaft Sarepta, Chorgebete I, 1960, S. 293 ff.
Der Sprachstil wurde bewusst übernommen, da in ihm Charakteristisches für Frömmigkeit und Lebenshaltung zum Ausdruck kommt
h vgl. Evangelisches Tagzeitenbuch, 5. Aufl. Göttingen 2003, S. 368 Nr. 267
nach: Chorgebete I Schwesternschaft Sarepta, 1960, S. 270
i vgl. Gebet Bodelschwinghs nach A.Ringwald, Bete mit, Stuttgart 1960, S. 59
k vgl. www.heiligenlexikon.de : von Bodelschwingh, Friedrich
l vgl. www.ekd.de Meldung "Große Nöte bedürfen neuer, mutiger Gedanken" 22. März 2010
m vgl. www.ekd.de W. Huber, "Bodelschwingh und die Mission" - Festvortrag 27. Oktober 2006